Henry Büttner:

Tusch für einen großen Zeichner

Erschienen am 10.11.2018

Von Gabi Thieme (Text) und Wolfgang Thieme (Foto und Repros)

Henry Büttner umgibt ein Mythos. Dabei ist er eigentlich nur menschenscheu. Auch mit 90 Jahren ist sein Lieblingsplatz das Arbeitszimmer. Foto: Wolfgang Thieme

Für die einen ist er ein Eigenbrötler, andere schätzen ihn als belesenen Zeitgenossen und exzellenten Beobachter. Wieder andere kennen ihn als Maßhaltefanatiker und scheuen Künstler. Vor wenigen Tagen fragte man selbst in seinem Heimatdorf, ob Henry Büttner eigentlich noch lebt. Ja, der Karikaturist lebt noch. Am Montag (12.11.2018) wird er 90.

Hohe Hecken schützen das Haus an der Oberen Hauptstraße in Wittgensdorf vor neugierigen Blicken. Der Garten um die etwas in die Jahre gekommene, zweistöckige Villa zehn Kilometer nördlich von Chemnitz gleicht einem Park. Am Eingangstor gibt es kein Namensschild. Das war schon immer so, auch bei meinem ersten Besuch im November 1979. Erst wenn die Hausbriefkästen in Sichtweite kommen, verraten die Namen darauf, dass hier eine mehrköpfige Familie Büttner wohnt. Ein Briefkasten ist fein säuberlich mit Henry Büttner beschriftet. Mit dem Namen jenes Mannes, der zu DDR-Zeiten rund ein Dutzend Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig mit Witzen belieferte und zu einem der beliebtesten Karikaturisten der Republik avancierte. Es dürfte kaum einen DDR-Bürger geben, den Büttner mit seinen Zeichnungen nicht durchs Leben begleitet hat. Für viele war der eher kleine Mann sogar der Größte. Seine Witze waren einfach Kult.

Seit fast 20 Jahren zeichnet Büttner nicht mehr. Im letzten, vom Eulenspiegelverlag 2001 herausgegeben Buch "Männer sind auch Menschen" (zweite Auflage 2005) spricht er von 21.523 Karikaturen, die er mit dem Signet HB zu Papier gebracht hat. Seither lebt er noch zurückgezogener als früher. Einige Wittgensdorfer berichten, sie hätten Büttner schon Monate nicht mehr gesehen. Auch der Ortschaftsrat macht sich seit Tagen Gedanken, ob und wie man den berühmten Sohn des Dorfes anlässlich seines 90. Geburtstages am Montag ehren kann. "Wir wissen nicht, wie es um seine Gesundheit steht", räumt Dr. Ullrich Müller, Ortsvorsteher und niedergelassener Allgemeinmediziner, vor einer Woche ein.

Aus "Das dicke Büttner-Buch". Der Zeichner selbst sieht sich als eine Art "Philosoph für die Alltäglichkeiten". Foto: Repro: Wolfgang Thieme

Bei Angelika Büttner, der einzigen Tochter des Künstlers, hofft man auf Aufklärung. Die 56-Jährige, die mit Mann und Sohn in einer eigenen Wohnung in Henry Büttners Haus lebt, gibt Entwarnung: Ihr Vater sei in Ordnung, höre nur etwas schwer und würde sich am Montag schon über eine kleine Abordnung aus dem Rathaus freuen.

"Aber wir feiern nur ganz bescheiden im kleinsten Kreis", schränkt Büttner vor zwei Tagen ein. Ich erlebe an diesem Tag zum zweiten Mal in meinem Berufsleben eine Sternstunde mit Henry Büttner. Nach kurzer telefonischer Anmeldung bei der Tochter führt sie mich in das Arbeitszimmer des Vaters. Der springt zur Begrüßung fast aus seinem Sessel. Ich komme mir vor wie in einer Zeitmaschine, die mich 39 Jahre zurückkatapultiert hat. Im November 1979 empfing mich Büttner in diesem Zimmer schon einmal - nach langem Drängen und zig vorausgegangenen Zurückweisungen. Er mochte keine Menschen um sich herum, keine Besucher und erst recht keine Journalisten - bis heute. Es wirkt auf mich, als sei in diesem Zimmer in 39 Jahren nichts verändert worden. Es gibt keinen Computer, kein Notebook, kein Handy. Die Bücherregale biegen sich unter der Last vieler Klassiker. Tschechow, Dostojewski, Tolstoi, Fontane, Moravia, aber vor allem Thomas Mann hatten hier schon immer einen Platz in vorderen Reihen.

Der Schreibtisch, damals noch mit allerlei Utensilien und Zeichnungen übersät, ist aufgeräumt und verrät, dass Büttner wohl nicht oft daran sitzt. "Ich habe mit über 70 aufgehört, ich hatte mich ausgezeichnet", verrät er mit Augenzwinkern. "Ideen gab es noch, aber ich hatte keine Lust mehr. Auch weil mein Stil für die heutige Zeit nicht deftig genug ist", meint Büttner. "Ich galt ja schon immer als ein eher melancholischer oder philosophischer Zeichner mit einem Hang zu Schopenhauer. Das passt nicht mehr in die Zeit." Büttner knauserte im Gegensatz zu manchem heutigen Zeitgenossen mit Strichen, niemals aber mit Pointen. Das Satiremagazin "Eulenspiegel" belieferte er noch lange nach der Wende, das meiste hatte er noch auf Vorrat. Aber seit den Herausgebern immer mehr alte DDR-Leser wegblieben, gebe es keine Nachfrage mehr nach HB, sagt Henry Büttner. "Und die im Westen kennen mich gar nicht." Dabei erschien von ihm mehr als ein Dutzend Bücher mit Karikaturen. Selbst das zu DDR-Zeiten vergeblich ersehnte "Dicke Büttner-Buch" kam erst fünf Jahre nach der Wiedervereinigung auf den Markt. Wohl dem, der eins besitzt. Eine Neuauflage ist laut Eulenspiegelverlag nicht geplant.

Aus Büttners gesammelten Werken - in: "Das dicke Büttner-Buch", in erster Auflage erschienen 1995 im Eulenspiegelverlag. Foto: Repro: Wolfgang Thieme

Auch Ausstellungen mit Büttner-Witzen wird es wohl nicht mehr geben. Als die Galerie Komische Meister in Dresden vor wenigen Jahren mit diesem Ansinnen an den Wittgensdorfer herantrat, schlug er das Angebot aus. "Ich wollte einfach nicht so weit fahren. Ich habe bis heute eine Aversion gegenüber Öffentlichkeit." Auch in diesem Punkt ist Büttner einem Lebensmotto treu geblieben. Sein Drang nach Ungestörtheit, sein geringes Bedürfnis nach Geselligkeit, seine bescheidene Zurückhaltung hatten zur Folge, dass er zwar für zig Verlage in Berlin arbeitete, aber dazu nie selbst in die Hauptstadt fuhr. Zwei- oder dreimal war er anfangs in Berlin, doch das blieben bis heute seine weitesten Reisen überhaupt. Dabei besaß Wittgensdorf in besten Zeiten sogar drei Bahnhöfe, der Obere bis heute nur einen Kartensprung von Büttners Anwesen entfernt.

"Das ist Zeitverschwendung", begründete er stets seine Ablehnung. Auch nach 1990, als sich die Türen der ganzen Welt öffneten, verreiste Büttner nie, nicht einmal zu einer Preisverleihung nach Dresden. Venedig, das wäre vielleicht ein Ort gewesen, wo er gern mal hingefahren wäre, "doch ich müsste abends zurück sein".

Weil das nicht funktioniert, widmet Büttner seine Zeit der Familie - mit Frau, Tochter und zwei Enkelsöhnen -, dem Garten und seinen Büchern. Viele Klassiker liest er jetzt im Alter zum wiederholten Mal. Er kann nicht sagen, wie oft er Thomas Manns "Zauberberg" verschlungen hat, seine Lieblingslektüre zu Silvester. Heute beschäftigen ihn vor allem Büchern, die es in der DDR nicht gab. Fernsehen hält er dagegen nicht länger als zwei Stunden pro Tag aus, und auch nur abends bei interessanten Reportagen, bestätigt seine zehn Jahre jüngere Ehefrau Gisela. Seit 1961 ist sie mit dem liebenswerten Eigenbrötler verheiratet, kocht für beide jeden Tag. "Weil ich das nicht kann", räumt Büttner ein. "Glauben Sie mir, ich bin nicht stolz darauf." Dafür macht er sein Arbeitszimmer selber sauber, stellt Tochter Angelika klar. Sie müsse den Eltern lediglich einmal pro Woche beim Großeinkauf helfen, "ansonsten bewältigen sie ihren Alltag allein. Selbst leichte Gartenarbeiten lässt sich der Vater nicht abnehmen."

Aus "Männer sind auch Menschen" - dem letzten Buch, das der Eulenspiegelverlag 2001 mit Karikaturen von Henry Büttner herausbrachte. Foto: Repro: Wolfgang Thieme

Bis heute fragen sich viele Büttner-Fans, die vor allem um seinen zurückgezogenen Lebensstil wissen, woher er immer wieder neue Ideen schöpfte. Silvester 1954 erschien seine erste Karikatur im "Eulenspiegel". Da arbeitete er noch als gelernter Gebrauchsgrafiker und Schaufenstergestalter im Karl-Marx-Städter HO-Warenhaus. Damals skizzierte er ganz nebenbei. 1958 waren die "Humore" aus Wittgensdorf schon so gefragt, dass Büttner im Jahr darauf beschloss, freischaffend zu arbeiten. Die Selbstständigkeit gab er nie mehr auf. Über alle Jahrzehnte hinweg führte er ein fast schon pedantisch geregeltes Leben. Vier Stunden Zeit am Tag mussten fürs Lesen bleiben, bis heute gehört auch die "Freie Presse" zur täglichen Lektüre. Vormittags stand die Ideensuche auf dem Plan, "die eigentliche Anstrengung meiner Arbeit", wie Büttner sagt. Diszipliniert setzte er sich selbst ein Pensum: drei Zeichnungen pro Tag. Obwohl ihm die Ideen niemals ausgingen, fürchtete er sich dennoch vor diesem "Ernstfall". Deshalb legte sich Büttner eine eiserne Reserve an, die er ständig ergänzte. Als ich ihn 1979 das erste Mal traf, umfasste sie 2000 Zeichnungen. Die hätten ausgereicht, um die "Eule" und alle anderen Redaktionen noch etwa fünf Jahre mit Skurrilem aus Wittgensdorf zu beliefern. Einen Teil dieses beruhigenden Kapitals bewahrte HB in einem kleinen, alten Koffer auf, der immer griffbereit war. "Sollte in meinem Haus mal ein Feuer ausbrechen, dann nehme ich blitzschnell diesen Koffer und bringe ihn in Sicherheit", so Büttners Plan. Vom Sparbuch und Ausweispapieren kein Wort.

Obwohl es nie einen Brand gab, existiert der Koffer nicht mehr. Büttners Nachlass schlummert in Schubkästen. "Ich weiß nicht, was damit mal wird. Vielleicht hat nach meinem Tod jemand Interesse." Das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig fällt Büttner spontan ein.

In seinem Geburtsort gibt es in der Heimatstube, die sich über fünf Räume in Rathaus erstreckt, schon seit 2013 eine Ecke zu Ehren des berühmten Zeichnern. Ortsvorsteher und Mediziner Ullrich Müller hat dazu seine privaten, von Büttner erworbenen "Arzt-Witze" zur Verfügung gestellt. Auch Mappen mit diversen gedruckten Karikaturen sowie fast alle Büttner-Bücher sind ausgestellt. Nicht einmal da folgte der Künstler der Einladung zur Eröffnung. "Er bat schriftlich und ganz höflich um Verständnis, dass er nicht kommt", erinnert sich Werner Polster vom Heimatverein.

Mein Original-Büttner. HB schenkte ihn mir nach einem Interview im November 1979 - auch mit Blick auf meinen gerade eineinhalbjährigen Sohn. Foto: Repro: Wolfgang Thieme

Dass Büttner vor allem seine eigenen Widersprüche und Schwächen, die der Familie, Nachbarn und Bekannten karikierte, daraus machte er nie ein Geheimnis. Fast jede Idee war angeblich mit eigenen Beobachtungen und Erlebnissen verknüpft und ins Komische zugespitzt. Allein seine 13-jährige recht fragwürdige Autofahrpraxis - er legte in dieser Zeit mit dem Skoda nur 13.000 Kilometer zurück - lieferte Stoff über Jahre. Büttner war nie ein politischer Zeichner, verstand sich eher als "Philosoph für die Alltäglichkeiten": "Mein Verhältnis zur DDR war zwiespältig. Ich gehörte zu jenen, denen es gut ging. Aber die Ideologie fiel mir auf die Nerven. Mein Verhältnis zur heutigen Bundesrepublik ist kaum anders. Vor allem der westliche Lebensstil ist mir fremd."

Als ich mich von Henry Büttner verabschiede, sagt er: "Es war schön, dass Sie da waren. Es war ein interessanter Vormittag. Aber Sie schreiben doch eigentlich viel über Kriminelles?"
"Ja", entgegne ich, "Ihr Leben ist doch spannend wie ein Krimi."


aus der FP vom 10.11.2018